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Vor 80 Jahren griffen Tiefflieger an

Viele Zeitzeugen, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg berichten können, gibt es heute nicht mehr. Ewald Stratmann ist einer von ihnen. Er erinnert sich an die Geschehnisse am 19. März 1945 in Leiberg. Fünf Jahre alt war er damals.

„Es war ein unglaublicher Krach, die Steine vom Haus haben richtig gewackelt“, erzählt er 80 Jahre später. Zur Mittagszeit an jenem 19. März, dem Josefstag, donnerten plötzlich britische Tiefflieger über das Dorf. Bisher hatten die Bewohner Leibergs Bombenangriffe, wie es sie auf die Großstädte Bielefeld und Paderborn gegeben hatte, nicht erleben müssen.

Nun, in den letzten Kriegswochen, erreichten die Bomben also auch Leiberg. Gemeinsam mit seiner Oma und seiner Mutter Josefine, die sich gerade um den Obstkuchen für ihren Namenstag kümmern wollte, flüchtete der kleine Ewald Stratmann in die Scheune der Landwirtsfamilie auf dem Hagen.

Durchs Fenster beobachteten sie voller Angst, wie die Tiefflieger drei Pferdefuhrwerke angriffen. Mit Dünger für die Frühjahrsaussaat beladen, waren sie etwa 200 Meter vom Bauernhof der Stratmanns entfernt auf der Straße in Richtung Haaren unterwegs. Die beiden ersten Wagen gehörten Nachbarn, den dritten steuerte Familienvater Bernhard Stratmann.

„Oma hat die ganze Zeit gebetet“

Aus geringer Höhe, erzählt Ewald Stratmann, beschossen die Flieger die Fuhrwerke, flogen eine Schleife, kamen zurück und schossen weiter. Die Pferde der ersten beiden Wagen wurden getroffen und lagen tot auf der Straße. „Unsere Oma hat nur die ganze Zeit gebetet.“

Und sie wurde offenbar erhört: Vater Bernhard Stratmann versuchte, die Pferde auszuspannen, um sie zu retten, und verletzte sich dabei schwer am Bein. Dennoch gelang es ihm, sich von der Straße zu entfernen und hinter einem von Büschen umstandenen Bildstock Schutz zu finden. „Vater lebt noch“, rief Ewald seiner Oma zu, „der hat sich versteckt.“ Mitsamt dem Gespann gingen die verschreckten Pferde durch bis zu den mehrere hundert Meter entfernten drei Linden in Richtung Haaren.

Soldaten schenkten dem Fünfjährigen Schokolade

Als der Angriff vorbei war, erzählt Ewald Stratmann weiter, seien bald darauf britische Soldaten ins Dorf gekommen: „Die toten Pferde wurden mit Militärfahrzeugen bei uns vors Haus geschleppt.“ In einer benachbarten Scheune wurde sie geschlachtet. Das dazu benötigte Wasser holten die Soldaten von Stratmanns. Das Fleisch wurde abtransportiert.

In Ewald Stratmanns Erinnerung verbindet sich der Schrecken mit etwas Schönem. Denn an diesem Tag bekam der Fünfjährige die erste Schokolade in seinem Leben. Drei Riegel Blockschokolade, weiß er noch genau, schenkten ihm die Soldaten. „Einen habe ich an meine Mutter weitergegeben, weil sie doch Namenstag hatte.“

Vater behielt Gehbehinderung zurück

Sein verletzter Vater wurde derweil von Nachbarn nach Hause gebracht und noch am selben Tag mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus nach Büren transportiert. Drei Wochen lang wurde sein gebrochener Fuß dort behandelt. Ganz in Ordnung sei er nicht wieder gekommen, sagt Ewald Stratmann, eine Gehbehinderung behielt sein Vater zurück.

Doch davon abgesehen, hatte die Familie keinen Schaden erlitten. Auch die Nachbarn, deren Pferde getötet wurden, überlebten den Beschuss. Noch am Abend des 19. März sei der ganze Spuk vorbei gewesen, erinnert sich Ewald Stratmann. Warum die Briten die Wagen angegriffen hatten, kann er im Nachhinein nur vermuten: „Vielleicht dachten sie, es gäbe einen militärischen Zusammenhang, oder es ging ihnen tatsächlich um das Fleisch.“

Wenige Wochen später, am 8. Mai 1945, war der Zweite Weltkrieg zu Ende und das nationalsozialistische Regime besiegt. Und auch in Leiberg kehrte nach und nach die Normalität wieder ein. Für Ewald Stratmann, der fast sein gesamtes Berufsleben von 1965 bis 2002 als Filialleiter der Volksbank in Büren-Weiberg verbracht hat, sind die Ereignisse vom 19. März auch 80 Jahre später noch präsent.
Quelle: Westfalen-Blatt, Text: Hanne Hagelgans
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