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Die Abtwiler Wildsau

Stolz präsentieren die Appeler Jäger ihre Wildsau. Der Stocker Saffeeri hatte einen Traum….
Von links: Niklaus Rüttimann, Turlihans, Fridolin Balmer, Saffeeri Stocker, Burkart Rüttimann.

Der Winter 1930/31 war bitterkalt. Zu Eis erstarrt waren Fluren, Bäche und Wälder. Bereits wagten sich ausgehungerte Füchse in die Dörfer, um nach Fressbarem zu suchen. Während einer Jassrunde der Abtwiler Jäger berichtete der Turlihans, dass im Zugerbiet ein hungriger Fuchs ein Mädchen angefallen habe. «Wir müssen vorsorgen», meinte er, «das sind wir der Jugend schuldig. Gleich morgen sollten wir auf die Jagd gehen, am besten in die Wälder entlang der Luzerner Grenze. Gestern haben dort die Jäger von Ballwil und Hohenrain auf ihrer Seite gejagt. Dabei hat sicher viel Wild in unser Revier gewechselt».
Am andern Tag riegelten die Abtwiler Jäger ihr Revier an der Luzerner Kantonsgrenze ab. Man teilte sich in Posten auf und wartete. Nichts geschah. Stunde um Stunde verging. Nicht einmal ein Füchslein wollte sich zeigen. Die Kälte hockte in den Knochen und in den Kleidern, und noch war kein Schuss gefallen. Bereits dunkelte es, und man dachte an den Abbruch der Jagd. Da erschall vom Chramiswald her Pferdegetrappel, eine Wildsau brach durch das Gezweig, verfolgt von einem Balbeler Jäger hoch zu Ross. Der Turlihans rief: «Halt! Hier Appeler Revier!». Er zielte auf die Wildsau und schoss. Ohne Wirkung. Ein zweiter Schuss …… das Tier verhielt kurz, dann verschwand es im dichten Unterholz. Die erste Wildsau im Revier, welch ein Glücksfall! Und welch ein Unglücksrabe, der Turlihans, er schoss zweimal daneben! Die Jäger eilten von allen Seiten herbei und suchten nach dem Wild. Vergebens, das Tier war wie von der Erde verschluckt. Mit hängenden Köpfen wurde die Jagd abgebrochen. Man verabredete, die entwischte Wildsau nirgends zu erwähnen, um sich nicht dem Gerede und dem Spott der Leute auszusetzen.
Genau eine Woche später hatte der Stockersaffeeri einen Traum. Er sah, wie er im Schnee nach der Wildsau stöberte. Er bemerkte ein Hutzeltännchen, ein Grotzli, das schräg über einer kleinen Mulde hing und diese halb verdeckte. Und in der Mulde lag die Wildsau, er sah sie ganz genau.
Schon morgens früh berichtete er dem Turlihans aufgeregt von seinem Traum: «Du hast die Wildsau getroffen, sie ist mausetot und liegt in einer kleinen Mulde, ich weiss wo, ich habe sie im Traum gesehen!» Der Turlihans suchte seinen Jugendfreund zu beruhigen, aber der Saffeeri berichtete so eindringlich und begeistert von seinem Traum, dass Hans schliesslich aus purer Freundschaft einwilligte, mit ihm die Fundstelle aufzusuchen. Wie zwei Verschworene machten sie sich mit ihren Flinten unbemerkt aus dem Dorf und stapften durch den Schnee. Im Grüterwald übernahm der Stockersaffeeri die Führung. Traumwandlerisch bahnte er sich einen Weg durchs Unterholz und blieb plötzlich vor einem schrägen Grotzli stehen, schob vorsichtig die schneebedeckten Äste auseinander und bemerkte in einer kleinen Grube etwas Lebendiges. Es war ein Fuchs. Ein Schuss, der Fuchs sprang hoch und fiel zuckend tot zurück. Die Jäger drehten ihn zur Seite, und was jetzt zum Vorschein kam, verschlug ihnen die die Sprache. Vor ihnen lag die Wildsau, stockbeingefroren und an einer Hinterbacke vom Fuchs leicht angefressen!
Während der Turlihans beim Wildschwein Wache stand - so hart an der Luzernergrenze war Vorsicht geboten - erschien der Stockersaffeeri mit dem umgehängten Fuchs im Dorf und sorgte für Furore: «Wir haben die Wildsau! Wir haben die Wildsau! Die erste Appeler Wildsau!» Er trommelte ein paar Jäger zusammen, um das erlegte Tier heimzuholen. Bei ihrer Heimkehr erlebten sie einen Auflauf, wie Abtwil ihn noch nie gesehen hatte. Alles, was Beine hatte, stand am Strassenrand und jubelte. Grosszügig beschloss die Jagdgesellschaft, allen Dorfvereinen und auch dem Gemeinderat einen Wildsaupfeffer zu offerieren, wenn das Fleisch noch geniessbar sei. Ein paar mutige Jäger waren bereit, als Vorkoster von der Leber zu essen. Keiner bekam Bauchweh, keiner musste sich übergeben, also war das Fleisch noch gut. Halb Abtwil versammelte sich im Wirtshaus zum grossen Wildsaupfeffer. Die Dorfmusik spielte, der Kirchenchor sang und zu später Stunde hielt der Turlihans eine Rede und erzählte von Stockersaffeeris Traum. - Noch heute reden die Abtwiler davon.
(P.S. Von Pius Balmer bekam ich den Hinweis, dass der grosse Dichter Josef Villiger, der in seiner Jugendzeit in Abtwil lebte, einst im «Beobachter» einen Bericht über die Abtwiler Wildsau veröffentlicht hatte. Ich habe versucht, seine Geschichte verkürzt nachzuerzählen). B. M.