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Angedacht zum 1. Jahrestag des Ukraine-Krieges

Erst letzte Woche habe ich mit einer älteren Frau aus Mariupol gesprochen. Sie betete in unserer Kirche, dankbar lächelte sie mir zu. Ich sprach sie an. Mit gebrochenem Deutsch antwortete sie und holte schließlich ihren Enkel dazu. Sie erklärte mir, sie sei seine Babuschka, seine Großmutter. Der Enkel geht in Rhoden zur Schule. Die Familie wohnt in Wrexen. Sie ließ ihren Enkel übersetzen und erzählte, dass sie aus Mariupol komme. Ihr Haus im Vorort gibt es nicht mehr. Erst seien sie bei Bekannten untergekommen. Es gab schon lange kein Strom mehr und inzwischen auch kein fließendes Wasser. Essen kochten sie sich über einer kleinen Feuerstelle. Holz gab es auch kaum. Es wurden dann halt die Fensterrahmen der zerstörten Häuser genommen. Wasser holten sie aus einem nahegelegenen Brunnen. Es war aber gefährlich dorthin zu gehen, weil sie oft Schlange stehen mussten um ein wenig Wasser zu holen und oft gerieten die Menschen dort unter Beschuss und viele sind dabei gestorben. Irgendwann haben sie dann all ihren Mut zusammengenommen und haben den gefährlichen Aufbruch gewagt. Viele haben sie sterben sehen.
Für mich als Kind einer über fünfundsiebzigjährigen Friedensepoche sind diese Erzählungen und grausamen Bilder des Ukraine-Krieges, die Verzweiflung der Menschen, die unmenschliche Kälte der Mächtigen fremd. Ich will eigentlich damit nichts zu tun haben, erinnert es mich doch daran, wie gut es mir geht. Und dennoch empfinde ich es inzwischen auch als ein Angriff auf mein Leben, weil dieser Krieg mir auch einiges zumutet. Neben den Bildern, die ich eigentlich nicht mehr sehen mag, die Energiekrise, die Inflation …. ganz zu schweigen von der Not der Menschen, die mich nicht kalt lässt.
Mich macht das alles wütend und ich möchte auf diese mir und diesen Menschen angetane Gewalt mit Gewalt reagieren. Möchte dem Bösen böse begegnen.
Aber in der Wirklichkeit ist es so anders: Der oder das Böse, die Lüge und der Betrug, die Täuschung haben die Oberhand. Sie tragen weiße Hemden und Krawatten und sehen sehr gepflegt aus. Zum Zerstören, zum Metzeln haben sie ihre Helfer. Es greift zu kurz, zu sagen, wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen. Die Perspektive ist entscheidend.
Schnell und oft empfinden wir zudem das Fremde als eine Bedrohung des Eigenen. Das Fremde ist das mir Unbekannte, das Neue, das Unerhörte. Das Fremde löst in mir etwas aus: Es befremdet mich. Instinktiv und intuitiv versuche ich es einzufügen und zu vereinnahmen. Misslingt dies, werde ich es verstoßen, von mir wegschieben, abschieben. Gelingt auch das nicht, werde ich versuchen, es zu vernichten. Und genau das erleben wir zur Zeit: Den Diktatoren ist Demokratie fremd und bedrohlich. Sich darauf einlassen würde für sie bedeuten, sich von der Diktatur zu verabschieden. Es würde das vernichten, was sie mühsam aufgebaut haben.
In diese Situation hinein frage ich nach Gott. Wo bist Du? Wo bist Du, Gott, im Grauen? Wo bist Du in den eingekesselten ukrainischen Städten? Wo bist Du, Gott, im Mittelmeer, wo immer noch Flüchtende ertrinken? Wo bist Du, als so viele Menschen in der Türkei und Syrien bei den Erdbeben gestorben sind?
Ich glaube, es ist gut, sich daran zu gewöhnen, dass Gott nicht so da ist, wie ich mir das wünsche - wie ich meine es zu brauchen.
„Ich bete“, sagte mir neulich ein Jugendlicher, „aber trotzdem geschieht nicht das, was ich erbeten habe.“
Gott ist kein Gott der Macht und kein Gott des Sieges.
Und so hadere ich mit der Wirklichkeit, wie sie gerade ist. Sie soll anders sein! Gott, der doch allmächtig ist, soll sie anders „machen“! Er soll meinen Polarisierungen entsprechen, er soll meine Vorstellungen von Gut und Böse verwirklichen!
Ich kann nicht akzeptieren, dass ich nicht die Kraft habe, die Wirklichkeit zu verändern.
Alles, was ich kann, ist, meine Haltung zu dem, was ich vorfinde, zu verändern. Ich kann hart, abweisend und verbittert meine Tage leben. Und ich kann freundlich und barmherzig-zugewandt meine Tage leben. Ich kann mich zerstreut, gehetzt und genervt fühlen – dann ist alles zu viel - und ich kann mich eingerahmt von der Kraft der Liebe fühlen - dann ist zu tun, was eben zu tun ist.
In diesem kleinen Rahmen, der mir möglich ist, kann ich mich bewegen. Und dazu gehört für mich das Gebet. Und auch wenn ich schon seit einem Jahr bete, dass dieser unsägliche Krieg aufhören möge, werde ich es auch weiterhin tun. Und ich wünsche mir, dass Sie und Ihr das gleiche tut.
Denn jede und jeder von uns hat die Freiheit, sich auf diesem Weg des Friedens von seinem Hass oder von Gottes Liebe leiten zu lassen.
Darum lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Römer 12, 21) Amen
Lasst uns beten:
Entfesselte Mächte toben in der Welt.
Das Böse hat ein Gesicht.
Unschuldige Menschen sterben,
unzählige sind auf der Flucht.
Die Welt rüstet weiter auf.
Gott, ich habe Angst!
Es zerreißt mir das Herz,
Frieden war für mich selbstverständlich.
Und nun ist schon seit einem Jahr Krieg in Europa.
Wo bist du, Gott?
Sei da.
Mach dem Kriegstreiben ein Ende.
Amen.
Herzliche Segensgrüße
Ihre und Eure Pfarrerin Elke Carl

Dieser Beitrag wurde in der Gruppe Gesamtkirchengemeinde Diemelstadt veröffentlicht.